Lange bevor das Silicon Valley zum Synonym für digitale Innovation wurde, legte Westfalen bereits im Mittelalter die Grundsteine der Datenverarbeitung. Von einem revolutionären Kalendersystem im 11. Jahrhundert bis zu den ersten deutschen Computerpionieren – eine Region schreibt IT-Geschichte.
Wenn heute von den Wiegen der Informatik die Rede ist, fallen meist Namen wie Palo Alto oder Cambridge. Doch ein Blick in die Geschichte offenbart eine überraschende Wahrheit: Westfalen kann auf eine der ältesten und reichsten Traditionen der Datenverarbeitung zurückblicken, die weit vor der digitalen Revolution begann und bis heute nachwirkt.
Die mittelalterlichen Anfänge: Computus als Urform der Datenverarbeitung
Der erste Höhepunkt westfälischer Datenverarbeitung liegt bereits über tausend Jahre zurück. Im 11. Jahrhundert entwickelte Reinher von Paderborn als Lehrer an der Domschule seinen „Computus Emendatus“ – ein innovatives System zur Berechnung kirchlicher Festtage. Was zunächst als theologische Notwendigkeit erscheint, war in Wahrheit bereits frühe Informatik: die systematische Verarbeitung von Daten nach festgelegten Algorithmen.
Diese Tradition intellektueller Innovation setzte sich fort, als 1618 der Universalgelehrte Athanasius Kircher in Paderborn in den Jesuitenorden eintrat. Kircher, der hier Theologie und Philosophie studierte, gilt zusammen mit Raimundus Lullus und Gottfried Wilhelm Leibniz als einer der Begründer der Computertheorie. Bereits Jahrhunderte vor der Erfindung elektronischer Rechenmaschinen entwickelten diese Denker die theoretischen Grundlagen dessen, was später zur digitalen Revolution werden sollte.
Der industrielle Durchbruch: Nixdorf und die mittlere Datentechnik
Den Sprung von der Theorie zur Praxis vollzog Westfalen im 20. Jahrhundert mit beeindruckender Konsequenz. Heinz Nixdorf revolutionierte mit seiner Nixdorf Computer AG den Markt für mittlere Datentechnik und etablierte Paderborn als bedeutendes IT-Zentrum. Sein Erbe ist bis heute sichtbar: Das Heinz Nixdorf MuseumsForum beherbergt die weltweit größte Sammlung zur Geschichte der Informationstechnik, die überdurchschnittlich hohe Dichte an IT-Unternehmen in der Region geht maßgeblich auf seine Pionierarbeit zurück.
Die akademische Exzellenz, für die heute das Heinz Nixdorf Institut, das C-LAB und das s-lab an der Universität Paderborn stehen, wurzelt ebenfalls in dieser Tradition. Nixdorf verstand früh, dass technologische Innovation und wissenschaftliche Forschung untrennbar miteinander verbunden sind.
Verborgene Pioniere: Schoppe & Faeser und Siemag
Abseits des bekannteren Nixdorf-Imperiums entstanden weitere bemerkenswerte Innovationen. Die Schoppe & Faeser GmbH aus Minden entwickelte 1955 das erste vollelektrische Prozessleitsystem und schuf mit ihrer Integrieranlage zeitweise die leistungsfähigste Installation dieser Art in Europa. Gemeinsam mit Nixdorf Computer und der Zuse KG bildete das Mindener Unternehmen das Trio der ersten kommerziell erfolgreichen mittelständischen IT-Unternehmen Deutschlands.
In Südwestfalen setzten die Siemag Feinmechanischen Werke und später die Philips Data Systems GmbH in Siegen-Eiserfeld wichtige Meilensteine. Von der mechanischen Schreibmaschine bis zum Yes-Computer, der als einer der letzten europäischen Konkurrenten zum IBM-PC galt, spannte sich hier der Bogen technologischer Entwicklung.
Universitäre Exzellenz: Dortmund als Keimzelle des deutschen Internets
Die TU Dortmund beherbergt eine der größten und ältesten Informatik-Fakultäten Deutschlands und war zugleich eine der Keimzellen des Internets in Deutschland. Symbolisch für die Verbindung von Tradition und Innovation steht die Ehrendoktorwürde, die die Universität 1991 an Konrad Zuse verlieh – den Erfinder des ersten funktionsfähigen Computers der Welt.
Bereits 1957 entstand in Dortmund mit der Mathematischen Beratungs- und Programmierungsdienst (mbp) das älteste Softwarehaus Europas. Das hier ansässige Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik unterstreicht die kontinuierliche Relevanz der Stadt für die deutsche IT-Landschaft.
Theoretische Durchbrüche und praktische Anwendungen
Die Region kann auch mit bedeutenden theoretischen Beiträgen zur Informatik aufwarten. Die auf den Mathematiker Wilhelm Ackermann zurückgehende Ackermann-Funktion ermöglicht es bis heute, die Grenzen von Computer-Berechnungsmodellen zu bestimmen. An der Ruhr-Universität Bochum forscht das international renommierte Horst Götz Institut für IT-Sicherheit an den Herausforderungen der digitalen Zukunft. Ebenfalls in Bochum ist das Max-Planck-Institut für Cybersicherheit angesiedelt.
Eine besondere Stellung nimmt die Universität Münster ein, wo nach Ansicht von Achim Clausing Heinrich Scholz, der in engem Kontakt mit Alan Turing stand, die weltweit erste Informatik-Vorlesung hielt – ein weiterer Beleg für die Pionierrolle der Region.
Industrial IT: Westfalen gestaltet die Zukunft
Mit dem Centrum für Industrial IT in Lemgo und der Zukunftsmeile Fürstenallee in Paderborn positioniert sich Westfalen heute an der Spitze der Industrial IT-Entwicklung.
Ein herausragendes Beispiel für diese Kompetenz ist die Beckhoff Automation GmbH & Co. KG aus Verl, die als weltweit drittgrößter Hersteller von Industrie-PCs die Automatisierungstechnik maßgeblich prägt. Beckhoffs PC-basierte Steuerungstechnik revolutionierte die industrielle Automatisierung und zeigt, wie westfälische Unternehmen auch heute noch Standards in der globalen IT-Industrie setzen.
Diese Spezialisierung auf die Verbindung von Industrie und Informationstechnologie knüpft organisch an die jahrhundertealte Tradition der Region an, praktische Probleme mit innovativen Lösungsansätzen zu bewältigen.
Ein unterschätztes Erbe
Westfalens IT-Geschichte ist mehr als eine Ansammlung historischer Fakten – sie zeigt ein bemerkenswertes Kontinuum innovativer Denktraditionen. Von Reinhers mittelalterlichem Computus über Kirchers universelle Wissenssysteme bis zu Nixdorfs Computern und den heutigen Industrial IT-Anwendungen zieht sich ein roter Faden systematischen, lösungsorientierten Denkens.
Diese Geschichte verdient es, nicht nur als regionale Besonderheit, sondern als wesentlicher Beitrag zur Entwicklung der modernen Informationstechnologie gewürdigt zu werden. In einer Zeit, in der die Digitalisierung alle Lebensbereiche durchdringt, erinnert Westfalens IT-Geschichte daran, dass echte Innovation oft dort entsteht, wo theoretisches Denken und praktische Anwendung aufeinandertreffen – eine Tradition, die in dieser Region bereits über tausend Jahre alt ist.
Quellen:
Geschichte der Datenverarbeitung und Informatik in Westfalen – ein kurzer Überblick
Als Siegen-Eiserfeld ein führender Standort der Datenverarbeitung in Europa war
Schoppe & Faeser – der in Vergessenheit geratene Computerpionier aus Minden